Matthias Maaß, seine Kunst und sein „Totenmahl“
Da Maaß auch der bekannteste Heidelberger Künstler mit Psychiatrie-Erfahrung ist, wäre zu erwarten, dass die Sammlung Prinzhorn am Heidelberger Universitätsklinikum eine Reihe repräsentativer Werke von ihm besitzt. Aber es gab hier erst wenige kleine Zeichnungen und Druckgrafiken, als das Museum 2015 sein bislang größtes Gemälde erhielt: das 2,30 x 6,00 m messende Ölbild „Das Totenmahl“ aus dem Jahr 1992. Es war ein Geschenk von Hans Gercke, ehemals Leiter des Heidelberger Kunstvereins.
Das Bildfeld füllen sechs große und zwei kleinere aufgereihte Gesichter, die bis auf eines alle den Betrachter anblicken, sowie zwei aufgerichtete Leitern. Oben, unten und rechts begrenzen breite graue Streifen das Bild. Sechs ebenso breite schwefelgelbe senkrechte Streifen in unregelmäßigem Abstand rhythmisieren die Fläche. Den insgesamt kühlen Farbklang der Komposition bestimmen zudem größere Partien in Eisblau, Rosarot, Violett, Rotbraun und Petrol. Die meisten Bildpartien sind zunächst mit breitem Pinsel oder Spachtel gestaltet, anschließend hat Maaß dünnere Pinsel eingesetzt und außerdem
mit dem Pinselstiel in die Farboberfläche geritzt. Auf diese Weise setzte er auch oben links Signatur und Datierung in den grauen Rahmen.
Die unterschiedlich großen, schematisch mit Umrisslinien ausgeführten Gesichter bestehen aus Augen, Nase und Mund, zumeist ist auch eine Kinnlinie auszumachen. Manchmal akzentuieren Augenbrauen den Ausdruck, zweimal sind die Münder geöffnet und zeigen Zähne. Selten schließt Haupthaar Gesichter nach oben ab. Einmal kennzeichnet ein breiter Kinnbart einen Mann – alle anderen Gesichter bleiben geschlechtlich unbestimmt.
Die Reihung wird links eröffnet, mit dem wärmsten Farbton im Bild und einem einwärts blickenden Profilkopf. Der Einstieg wird hier nicht nur durch die Leiter, sondern auch durch die Öffnung nach außen angezeigt: Die graue Umrahmung des Bildes fehlt am linken Rand der Leinwand, und sie verdeckt auch nicht den unteren Teil der Stiege. Bei dem grauen Winkel unterhalb des Profilkopfes könnte es sich um ein Fragment der aufgebrochenen Rahmung handeln. Die folgenden sieben Gesichter stehen in freiem Verhältnis zu den sechs schwefelgelben Senkrechten: Das erste, zurückblickende lehnt sich an den zweiten Balken, hinter dem eine verkleinerte Spiegelung in roten Pinselstrichen erscheint. Das nächste Gesicht liegt als einziges mittig auf der folgenden Senkrechten und erhält dadurch eine besondere Präsenz. Die Züge rechts daneben erscheinen zusammengeschoben von der nächsten Senkrechten, während die anschließende Physiognomie mehr Platz als alle anderen beansprucht. Eine weitere, schmalere Leiter in Eisblau trennt sie von den letzten beiden
Gesichtern, die jeweils einen Zwischenraum beanspruchen.
Wie auf dem Bild notiert, hat Matthias Maaß es am 9.2.1992 gemalt, und zwar innerhalb von 90 Minuten, als „Action Painting“. Den Rahmen bildete die Aktion „UMABGE-REQUIEM“ von Otfried Rautenbach (1942-2016), mit dem Maaß eng befreundet war, und weiteren Künstlern, manche ebenfalls mit Psychiatrie-Erfahrung. Teil des Begleitprogramms zu „Muzika“, einer Ausstellung der Sammlung Prinzhorn (damals noch Prinzhornsammlung) mit musikbezogenen Werken von Anstaltsinsassen, fand die „Uraufführung“ an diesem Sonntag um 20 Uhr in der katholischen Vituskirche des Stadtteils Handschuhsheim statt. Hans Gercke hatte den Ort vermittelt, da er den Pfarrer der Gemeinde kannte und wusste, dass er für künstlerische Unternehmungen offen war. Den Titel der Aktion vervollständigt Maaß zu „Umabgeändertes Requiem“. Die eigentliche Bedeutung des Fantasiewortes war den meisten Mitwirkenden nicht bekannt, und man solle sie auch besser nicht verraten, Otfried Rautenbach hätte es nicht gewollt.
Vor dem Chor der Kirche, am Ort des Abendmahls, war die Leinwand aufgestellt, auf der Maaß sein „Totenmahl“ entstehen ließ – in einem Sommeranzug, den er anschließend wegwarf. Walter Moos stand auf der Kanzel und rief unablässig unflätige Reime in den Raum, Rautenbach übertönte das mit lautem Spiel einer Tuba, während Gercke fast unhörbar leise auf der Orgel spielte. Weitere experimentelle Musiker erzeugten Töne auf Blechblasinstrumenten oder produzierten „Blackboxmuzak“ sowie Geräusche, indem sie fleißig Holz sägten.
Ein Sopranquartett trug das gregorianische Requiem, die Missa pro defunctis, vor.
Die Idee zu der Aktion war schon am 3.11.1989, auf Maaß‘ Geburtstag, geboren worden.
Anders als damals von Rautenbach in Aussicht gestellt, gab es allerdings weder ein Honorar für den Maler, noch für die anderen Mitwirkenden. Die Aktion wurde vom gemeinsamen Engagement getragen. Maaß ging es bei seinem Beitrag um eine „Verbindung aus dem Jenseits ins Diesseits“, deshalb auch die kühlen, teilweise fahlen Farben. Zu den Gesichtern sei er vom Publikum hinten in der Kirche angeregt worden. Die Leitern stünden für den „Ausstieg aus dem Inferno“. Der Maler erinnert sich, dass er im Prozess ein „Emotionsgelb“ rechts unten auf der Leinwand übermalte.
In der ursprünglichen Aufstellung des Gemäldes blickte die Gruppe monumentaler ernster Gesichter dem Besucher des Kirchenraums vom Chor entgegen, was sicherlich von feierlich unheimlicher Wirkung war. Sabine Herpertz, Direktorin der Klinik für allgemeine Psychiatrie am Heidelberger Universitätsklinikum schrieb 2017 von einer „ins Konkrete verbannte[n] Wolkenfantasie [….] [g]efangen […] in einer Struktur senkrechter Stäbe“.
Das Gemälde blieb wegen der Passionszeit bis Mitte April, also kurz vor Ostern in der Kirche, und zwar aufgehängt an der Empore und begleitet von einem Schild mit dem Titel, das Rautenbach angebracht hatte. Später schmückte es längere Zeit den Saal der Klinik für medizinische Psychologie an der Bergheimer Straße, wo unter dessen ärztlichem Direktor Rolf Verres eine Fülle von Veranstaltungen mit Musik stattfand. Schließlich schenkte Maaß es 2006 Hans Gercke zu seinem 65. Geburtstag. Der Leiter des Heidelberger Kunstvereins nahm es dankend an, wusste aber nicht, wohin damit, und ließ es lange aufgerollt im Keller des Kunstvereins stehen. In der Sammlung Prinzhorn wurde es dann 2017 zum ersten Mal wieder aufgespannt gezeigt, zur Ausstellung „Das Team als Kurator“. Anschließend kam es als Dauerleihgabe in den Publikumsbereich der Kopfklinik auf dem Gelände des Universitätsklinikums im Neuenheimer Feld, wo es anlässlich von Maaß‘ 60. Geburtstag eingeweiht wurde. Damit ist es gelungen, dieses große und beeindruckende Gemälde als erstes Werk von Matthias Maaß permanent in Heidelberg der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, zudem an einem Ort, der dem Bildthema einen breiten und facettenreichen Resonanzraum gibt.