Liebe Lesenden, liebe Freunde, Sammler, Bekannte und Verwandte,
ein sehr ungewöhnliches und herausforderndes Jahr neigt sich dem Ende entgegen und macht Platz für einen echten Neubeginn in 2021.
Wir hoffen und wünschen uns alle sehr, dass Sie alle mit Mut und Zuversicht in das neue Jahr starten und die Chancen zum Wandel für sich nutzen können.
Zum Jahresabschluss dürfen wir Ihnen hier an dieser Stelle einen Text des deutschsprachigen Lyrikers Rainer René Mueller zu einer Bilderserie aus dem Jahreswechsel 1982 von Matthias Maaß präsentieren.
Dieser Text soll den Auftakt zu einer Monographie über Matthias Maaß darstellen, die im kommenden Jahr entstehen wird und über die wir hier noch häufiger berichten werden.
Rainer René Müller organisierte eine der ersten Ausstellungen der Werke von Matthias Maaß in der Städtischen Galerie Schwäbisch Hall 1984.
Matthias Maaß : Gnossiennes auf Papier
– Einige Bemerkungen zu Blättern von Matthias Maaß vom 1.1.1982 und vom 31.12.1982 –
Um den Jahreswechsel 1981 / 82 erhielt ich von einem mir unbekannten Matthias Maaß eine ,- in bemerkenswerter Handschrift - mit der Füllfeder geschriebene Postkarte. Er bat mich, seine Zeichnungen anzusehen. Ich erinnere mich, daß ich damals zu einem Gegenüber sagte, die Zeichnungen dessen, der in solcher Handschrift schreibt, die will ich sehen. So ergab sich eine gut 4o-jährige nahe Beziehung.
Zu jenem Zeitpunkt hatte ich gerade die Leitung der Städtischen Galerie Schwäbisch Hall übernommen, deren Programm ich grundlegend ändern und in der Ausstellungsarbeit auf einen dezidierteren Weg führen sollte. Ich traf mich mit Matthias in der seinerzeitigen Familienwohnung, sah mir seine Blätter an, und, da ich jetzt über ihn schreibe, wird deutlich, daß ich mich sofort für seine Arbeit entschied. 1984 richtete ich seine erste Einzelausstellung in einer öffentlichen Galerie aus, mit einem Ankauf für die Städtische Sammlung. Vieles ergab sich daraus, worüber an anderer Stelle, im Zusammenhang mit dem monografischen Teil des geplanten Werkverzeichnisses zu schreiben sein wird.
Heute, anläßlich eines abermaligen Jahreswechsels, liegt mir ein Konvolut Zeichnungen von Matthias vor Augen, Blätter, die just aus dem Datumsraum stammen, davon oben die Rede ist, und über die einige Bemerkungen zu machen sind.
17 Zeichnungen, davon 12 Blätter auf Zeichenkarton 40 x 30cm. 1.1.1982 sowie 5 Blätter auf Umdruckpapier, 42 x 30 cm,. 31.12.1982. Feder, Glasfeder, schwarze Tusche, teilweise farbig laviert, Aquarell o. farbige Tusche. Also von jeweils einem Tage. Ein Beleg, in wie rascher Folge Matthias Maaß in der Lage war, Gesichter (durchaus in doppeltem Sinn) und Figuren ( im Sinne von Personae / Maske ) aufs Papier zu bringen. Es versteht sich, daß hier nicht jetzt auf ein einzelnes Blatt eingegangen werden kann, hingegen sind einige grundsätzliche Annotationen zur Gesamterscheinung der Zeichnungen möglich.
Für ähnlich geartete Zeichnungen gibt es, - um einmal vom regionalen Aspekt abzusehen, der oft wenig verfeinert die lokale Präsenz sieht und die Betrachtungs- und Wirkmöglichkeit einengt – im europäischen Zusammenhang zahlreiche Beispiele künstlerischer Äußerung vergleichbarer Aussage und Erscheinung, die gewisse Merkmale gemeinsam haben, deren Lesbarkeit hingegen individualisiert oder personalisiert werden muß. Das ist der Schlüssel für eine Wertung des jeweils Besonderen. Wenn man sich, was bei Zeichnungen naheliegt, um der Zeichnung willen, etwas näher mit den bestehenden grundsätzlichen Überlegungen zu Zeichen, Bezeichnen, Lesen, Schrift, Anzeichen, Metapher, Bedeutung beschäftigt, wie sie im Werk von Bergson, Derrida und Jean Luc Nancy sich äußern, so wird man gewahr, daß Zeichnungen gelesen werden müssen, auf jeden Fall aber gelesen werden können.
Was heißt das nun? Es werden vergleichbare Arbeiten geläufig der sogenannten outsider art zugerechnet, im Gegensatz zur akademischen Kunst, wobei einerseits ein meiner Meinung nach ungerechtfertigter Ausschluss vollzogen und dabei außer Acht gelassen wird, daß unter den Absolventen der Akademien die wenigsten über eine hinreichende Begabung verfügen, etwas zu gestalten, das die erlernten Beobachtungsfertigkeiten überstiege. Auch die Zuordnung zur art brut ist eher ein opportunes labeling. Andererseits führt auch die Psychiatrisierung nicht wesentlich weiter wie auch die Einordnung in den Surrealismus zu kurz greift, da, was dessen graphische, zeichnerische Methodik angeht, diese ja dem Grunde nach, nur eine Aneignung einer gewollten Ausdrucksfertigkeit ist. So sind beispielsweise die Zeichnungen von Unica Zürn dem zugeordnet, obwohl sie nie dem zuarbeiteten.
Bei den hier in Rede stehenden Blättern von Matthias Maaß haben wir es mit Zeichnungen zu tun, die, in höchstem Maß individualisiert, noch bis in die Modulation des Strichs, der Bewegtheit der fortgeführten Linie in der Ausdrucksfähigkeit der Motiv- oder Bildfindung nur der Raschheit der „ schreibenden“ Hand mit der Feder folgen und sozusagen das Augenblicksbild, - für das es kein Vorbild gibt - im Vollzug der zeitlichen Verzögerung im Vorgang des Zeichnens in das EINS des Blattes setzen. Ins Blatt setzen, das wäre auch hier hier graphein. Mit einer zeichnerischen écriture automatique hat das hingegen nichts zu tun. Daß das repetetive Element in den Zeichnungen von Matthias Maaß, die Wiederholung von Motiven, einer Versehrtheit im Innern seiner Person geschuldet sein könn(t)en, nimmt der Besonderheit der Blätter nichts, sie ist aber auch keinesfalls ein hinreichender Grund.
Warum Gnossiennes ? Nun, weil die Zeichnungen von Matthias Maaß in vielem sehr nah den Gnossiennes des compositeur maudit Eric Satie sind, der in seiner Zeit als Sonderling und Autodidact in seiner Pariser Umgebung, auffällig als Erscheinung, in seiner Musik seine Nebenwege ging und etwas Kostbares hinterließ, im Elend seiner möblierten Existenz. Und weil Gnosis auch ein Begriff ist aus der Neuropsychologie, der vieles kennzeichnet, was im stupenden Werk von Matthias Maaß wirksam zu sein scheint, - das Werk aber ragt weit über die Region, in der es entstand, hinaus.
27.12.20